Das Jenaer Martyrologium

(ThULB Jena, Ms. Bos. q. 3)

Martyrologien nennt man nach dem Kalender geordnete Verzeichnisse christlicher Märtyrer, d. h. Heiliger, die in den Jahrhunderten der Christenverfolgung ihr Leben für ihren Glauben gelassen haben. Als die ersten großen Martyrologien entstanden, war die Zeit der Verfolgung eigentlich schon vorbei. Man fing an, das Gedächtnis so zu organisieren, daß es der Zukunft nicht verloren ging. Auf der Grundlage verschiedenster Dokumente: Märtyrerakten, Verhörprotokolle und Lebensbeschreibungen, die lange auch in mündlicher Überlieferung weitergereicht wurden, entstanden zunächst kalendarische Martyrologien. Es waren Verzeichnisse, die nur den Namen des Märtyrers und ggf. den Ort seines Todes benannten. Sie blieben als Typ noch bestehen, als das Bedürfnis der Menschen nach ausschmückender Erzählung von der Liste zur Sammlung von Lebensbeschreibungen drängte. So entstanden die sog. historischen oder narrativen (erzählenden) Martyrologien, deren Aufgabe es war, nicht bloß dokumentierend aufzuzählen, sondern das tugendhafte Leben, die Werke und die qualvollen Todesumstände der Blutzeugen zu vergegenwärtigen. In einer Epoche, in der die äußere Bedrängnis der Gläubigen durch die von den Karolingern vorangetriebene Christianisierung zunehmend Geschichte wurde, erinnerte man sich der Glaubensfestigkeit der Alten. Der Kalender legte die Wiederkehr der Gedenktage fest. In den Kirchen wurde von den Märtyrern in deutscher Sprache gepredigt. Im straff organisierten Tageslauf der Mönchsorden erhielt die Verlesung der Martyrien ihren festen Platz nach der Prim, dem gemeinsamen Morgengebet. Sie erfolgte in Latein, der von allen Geistlichen verstandenen Sprache der mittelalterlichen Kirche Europas.

Während sich lateinische Martyrologien zu Tausenden erhalten haben, kennen wir heute nur wenige Martyrologien in den Volkssprachen. Vieles ist mit der Abschaffung der Heiligenverehrung im Zuge der Mittel- und Nordeuropa ergreifenden Reformation unwiederbringlich vernichtet worden. Aber das gilt für lateinische und deutsche Werke gleichermaßen. Die Zahl der mittelalterlichen Martyrologien in deutscher Sprache muß in jedem Fall gering gewesen sein. Sie wurden hergestellt für die wenigen Personen und geistlichen Gemeinschaften, die des Lateinischen nicht mächtig waren, trotzdem aber der Heiligen regelmäßig gedenken wollten. Insgesamt wissen wir nur wenig über die Besitzgeschichte und die Funktion der volkssprachigen Martyrologien. Fromme Laien werden unter den Besitzern gewesen sein; auch ein paar nach der Regel des Augustinus lebende Damenstifte und benediktinische Frauenklöster, in denen (anders als bei Zisterzienserinnen oder Dominikanerinnen) kein Latein gelehrt oder verstanden wurde. Deutsche Martyrologien können wir schließlich bei den geistlichen Ritterorden erwarten, etwa den Johannitern und dem in Thüringen einflußreichen Deutschen Orden. Sicher ist, daß alle deutschen Martyrologien auf lateinische Martyrologien zurückgehen. Wahrscheinlich ist, daß sie für den Eigengebrauch spontan übersetzt oder aus einer bereits am Ort befindlichen Vorlage abgeschrieben wurden.

Das Jenaer Martyrologium gilt als das älteste deutschsprachige Martyrologium. Es ist nur in einer einzigen Handschrift, dem Ms. Bos. q. 3 der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, überliefert. Wir wissen heute, daß es sich bei dieser Handschrift um die Abschrift einer deutschen Vorlage handelt. Wann genau die Vorlage entstanden ist, wissen wir nicht. Aufgrund inhaltlicher Merkmale kann sie nicht vor 1220, 1230 entstanden sein. Wahrscheinlicher ist eine Entstehung um die Mitte des 13. Jahrhunderts. Das Jenaer Martyrologium wird um 1275 datiert. Vielleicht gehören die Legenden des 1228 heilig gesprochenen Franz von Assisi und der 1235 kanonisierten heiligen Elisabeth von Thüringen zu den aktuellen Original-Nachträgen des Jenaer Martyrologiums. Es ist, wenn auch in diesem Sinne kein Original, so doch ein überaus wertvolles Einzelstück.

Wir wissen nicht, wer das Jenaer Martyrologium hat anfertigen lassen. Der Name eines Besitzers oder einer geistlichen Gemeinschaft, der im Mittelalter meist vorne in der Handschrift eingetragen wurde, fehlt. Der hölzerne, mit Leder überzogene Einband ist über 200 Jahre jünger als der Buchblock. Er ist von einem in Erfurt nachgewiesenen spätmittelalterlichen Buchbinder gefertigt worden. Die Handschrift weist auf dem hinteren Buchdeckel Spuren auf, die darauf schließen lassen, daß sie einmal mit einer Kette an einem Lesepult befestigt war. Diese (später verlorene) Kette hatte sie in den 1530er Jahren in Wittenberg erhalten. Dort gehörte die Handschrift zur um 1500 vom sächsischen Kurfürsten Friedrich dem Weisen (1463-1525) begründeten Schloß- und Universitätsbibliothek (Bibliotheca Electoralis). Dies ist durch Hinweise an der Handschrift selbst - neben den Kettenspuren die typische Wittenberger Form und Beschriftung des Titelschilds auf dem Vorderdeckel ("Deutsch Martirologium auff Pergamen") -, vor allem aber durch entsprechende Einträge in Wittenberger Bibliothekskatalogen gesichert. Wann und wie die Handschrift nach Wittenberg gekommen war, läßt sich nicht rekonstruieren. Friedrich der Weise hatte mehrere Klöster aufheben lassen und deren Bibliotheken weitgehend umverteilt oder seiner Bibliothek einverleibt. Aus einem Kloster seines Herrschaftsbereiches könnte auch das Jenaer Martyrologium stammen. Im Jahr 1549 gelangte die Bibliotheca Electoralis und damit auch das Martyrologium nach Jena. Die Bibliotheca Electoralis ist der Gründungsbestand der heutigen ThULB Jena. Seine heutige "Ms. Bos."-Signatur verweist auf Johann Andreas Bose (1626-1674), einen Juristen und seit 1656 Professor für Geschichte in Jena, aus dessen Besitz viele Handschriften an die Jenaer Bibliothek gelangten. Doch stammt das Jenaer Martyrologium wie gesehen keinesfalls aus Boses Bibliothek. Die historisch unzutreffende Signierung erklärt sich daraus, daß von Jenaer Bibliothekaren um 1702/04 das Martyrologium (wie beispielsweise auch die in der ThULB Jena verwahrten Handschriften Georg Rörers, des Mitarbeiters Martin Luthers) irrtümlich den "Manuscripta Bosiana" zugeordnet wurde.

Wichtig ist, daß das Jenaer Martyrologium in Thüringen entstanden sein muß. Das verrät uns seine Sprache. Der Schreiber hat sich keine Mühe gegeben, seinen Dialekt zu verbergen. Er schrieb nicht für eine breite Öffentlichkeit, sondern für seinen kleinen Lebensraum. Dort sagte man "he" für "er", dort hatten die Infinitive der Verben kein Schluß-n (also: "gehe" für "gehen"). Das Thüringische, das zur ostmitteldeutschen Sprachlandschaft gehört, weist deren spezifischen Vokalismus auf. Hier schrieb man "fur", wo man mittelhochdeutsch "fiure" schrieb, aus dem sich das neuhochdeutsche "Feuer" entwickelte. Diphthonge wurden vermieden: wo man andernorts "bluot" schrieb, bietet das Jenaer Martyrologium die dem neuhochdeutschen "Blut" nahe stehende Form "blut". Der Schreiber war also Thüringer. Er dürfte für ein thüringisches Publikum geschrieben haben.

Wenn es sich dabei um ein adliges Publikum gehandelt hätte, können es keine vermögenden Herrschaften gewesen sein. Das Pergament, das verwendet wurde (Papier gab es in Deutschland erst seit dem späten 14. Jahrhundert), weist viele Löcher auf, die sich bereits zur Entstehungszeit darin befanden. Wir erkennen das, weil der Text manchmal um die Löcher herum geschrieben wurde. Ein adliger Besitzer, der mit dem Buch ein Objekt erwarb, das er auch zur Schau stellen konnte, hätte solche Unebenmäßigkeiten sicher vermieden. Ein Kloster, das abhängig war vom Wohlwollen seiner Stifter und Förderer, mußte eher nehmen, was es kriegen konnte. Vielleicht ist auch das relativ kleine Format der Handschrift mit äußeren Zwängen zu erklären. Man konnte das Jenaer Martyrologium auf dem Schoß lesen, konnte es jedenfalls beim Vorlesen in beiden Händen halten oder auf den Tisch legen. Ein eigenes Lesepult war nicht erforderlich.

Wir nehmen also an, daß das Jenaer Martyrologium seit dem 13. Jahrhundert in Thüringen vor einem geistlichen Publikum, das Latein nur unzureichend verstand, eingebunden in regelmäßige geistliche Verrichtungen wohl nach dem gemeinsamen Chorgebet von einem Vorleser oder einer Vorleserin in Abschnitten, die zum jeweiligen Festtag der Märtyrer passten, verlesen wurde. Es gibt keine Gebrauchsspuren, die diesen Vortrag belegen könnten. Wohl aber haben Leser verschiedener Jahrhunderte auf den ersten rund 30 Blättern der Handschrift kleine kalendarische Notizen gemacht: einzelne Silben aus einer Merkdichtung, einem sogenannten Cisiojanus, in dem die Anfangsbuchstaben der Namen von Heiligen in der Reihe ihrer Festtage erscheinen. Die Merkhilfen bezeugen, daß sich das Martyrologium im Gebrauch befand.

Die Martyrien der Heiligen werden im Jenaer Martyrologium nicht allein in Erzählungen vergegenwärtigt, sondern auch in Bildern veranschaulicht. Jedem Tageseintrag lässt sich ein Bildstreifen zuordnen, der ausgewählte Szenen aus den jeweiligen Legenden zum Gegenstand hat. Fast jedem der 365 Tageseinträge im Jenaer Martyrologium ist eine Miniatur zugeordnet. Lediglich der Eintrag zum 17. Dezember (f. 103r-v) wurde doppelt illustriert, jener zum 30. Juni (f. 49v) hingegen - wohl aus Platzgründen - gar nicht. Ein Zusammenhang zwischen Texten und Bildern im Sinne einer Hinordnung der Bilder auf die Erzählungen ist nicht in allen Fällen zu erkennen. Das entspricht nicht moderner Erwartung. Es hat mehrere Ursachen, die zum Teil in der Geschichte der Texte, zum Teil in der Ikonographie der Heiligen begründet sind, zum Teil aber auch einer anderen Auffassung von dem, was Text und Bild gemeinsam leisten sollen, entspringen. Der Bildstreifen zur Legende des heiligen Franz von Assisi (f. 78r) z. B. zeigt zwei zentrale Ereignisse aus der Vita: die linke Szene die Vogelpredigt, die rechte die Erscheinung eines gekreuzigten Seraphs auf dem Alverna-Berg und die Stigmatisierung des Heiligen. Während die Vogelpredigt im Tageseintrag erwähnt wird, ist der Empfang der Stigmata erzählerisch nur angedeutet ("er hatte auch an seinem Körper fünf Wunden"). Der Zeichner realisierte die bedeutende Szene trotzdem. Wir wissen nicht, ob in der Vorlage ausführlicher von dem Ereignis auf dem Alverna-Berg erzählt wurde, ob der Zeichner selbständig Bildmaterial hinzuzog oder sogar auf sein eigenes theologisches Wissen zurückgriff. Bemerkenswert ist, daß die Miniatur zur Vogelpredigt bereits den stigmatisierten (!) Franziskus darstellt. Sie zeigt nicht nur die sichtbaren Wundmale an seinen Händen, auch die Seitenwunde schimmert deutlich durch die Kutte durch, obwohl die Stigmatisierung chronologisch erst später erfolgen soll. An dieser Stelle haben wir es mit einem Bild zu tun, das seinem Betrachter mehr verrät als der Text. Was einem modernen Benutzer hier inkonsequent erscheinen mag, gehört zum Selbstverständnis eines mittelalterlichen Rezipienten. Text und Bild sollen den Leser und Betrachter dazu anregen, über ihre theologische Bedeutung nachzudenken.


Literatur

  • Irina Merten: Das Mitteldeutsche Martyrologium. Studien zu seiner Genese, seinen Tradierungsformen und seiner Rezeption. Diss.phil., Jena 2011
  • Kurt HANNEMANN: Unterweisung zur Vollkommenheit. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 1. Auflage. Bd. 4 (1953), Sp. 639-650.
  • Volker HONEMANN: Unterweisung zur Vollkommenheit. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage. Bd. 10 (1999), Sp. 104-106.
  • Irmgard KRATZSCH: Schätze der Buchmalerei. Aus der Handschriftensammlung der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Jena 2001, S. 39-44.
  • Franzjosef PENSEL: Verzeichnis der altdeutschen und ausgewählter neuerer deutscher Handschriften in der Universitätsbibliothek Jena. Berlin 1986, S. 35-36.
  • Karin SCHNEIDER, Gotische Schriften in deutscher Sprache I: Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband, Wiesbaden 1987, S. 273.
  • Bernhard TÖNNIES: Die Handschriften der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Band I: Die mittelalterlichen lateinischen Handschriften der Electoralis-Gruppe. Wiesbaden 2002, S. 18.
  • Werner WILLIAMS-KRAPP: Jenaer Martyrologium. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage. Bd. 4 (1983), Sp. 517.